Überall Vulven! Buchvorstellung Mithu M. Sanyal: VULVA

Die Journalistin Mithu Sanyal untersucht anhand von Mythen, Sagen und unterschiedlichen religiösen Vorstellungen bis hin zu popkulturellen und künstlerischen Darstellungen, welche Macht der Vulva in früheren Zeiten und verschiedenen Kulturen zugeschrieben wurde. Das Buch schärft die Wahrnehmung für das Thema enorm und gibt nützliches Hintergrundwissen für das eigene Sprechen über Vulven an die Hand.
Inhaltsverzeichnis

Seit langem steht Petra Sood im Austausch mit der Autorin Mithu M. Sanyal, aus deren kulturhistorischer Doktorarbeit 2009 das Buch „VULVA. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“1 hervorging. Die Kulmine-Gründerin ist schlicht begeistert von dem Werk:

„Es ist eines der dichtesten Sachbücher, die ich überhaupt je gelesen habe. Höchstens zehn Seiten habe ich auf einmal geschafft. So viel spannendes Wissen! Und gleichzeitig unterhält es und bietet echten Lesegenuss.“

Die Journalistin Mithu Sanyal untersucht anhand von Mythen, Sagen und unterschiedlichen religiösen Vorstellungen bis hin zu popkulturellen und künstlerischen Darstellungen, welche Macht der Vulva in früheren Zeiten und verschiedenen Kulturen zugeschrieben wurde. Das Buch schärft die Wahrnehmung für das Thema enorm und gibt nützliches Hintergrundwissen für das eigene Sprechen über Vulven an die Hand.
Mithu hat uns gestattet, Auszüge aus dem Buch zu verwenden. Dafür bedanken wir uns recht herzlich und möchten allen Leser*innen Lust machen auf die eigene, weiterführende Lektüre und Recherche! Wir haben eine Auswahl getroffen, um dir zu zeigen, an wie unglaublich vielen Stellen auf vielfältigste Weise die Kraft der Vulva gefeiert wurde und wird. Und schließlich schlagen wir über die vaginale Korona den Bogen zu „unserem“ Thema bei Kulmine, dem Menstruationsblut

⁠Einleitung

Dies ist eine kleine Kulturgeschichte des Abendlandes – allerdings anhand der Darstellung des weiblichen Genitals2 in Alltag, Folklore, Medizin, Mythologie, Literatur und Kunst. Das mag auf den ersten Blick irritierend erscheinen. Reicht es nicht, dass es Kulturgeschichten des Küssens oder der Teekanne gibt? Auf solche Einwände lässt sich erwidern, dass zwar jeder sein eigenes Konzept des Küssens oder der Teekanne haben mag, allerdings kaum jemand leugnen würde, dass es diese Phänomene gibt. Anders als beim weiblichen Genital […] Die Vulva wird als Loch, Leerstelle oder nichts beschrieben. Im besten Fall fungiert sie als ungenügender Penis.
Je nach Temperament mag Frau das amüsant oder ärgerlich finden. Doch was bedeutet diese Leugnung einer biologischen Tatsache wie der Vulva für die Wahrnehmung ganz konkreter Körper? Bei einer Versuchsreihe, die ich an verschiedenen Gruppen von Wissenschaftlerinnen durchführte, stellte ich fest, dass sie alle Penisse zeichnen konnten, jedoch keine eine wiedererkennbare Vulva zustande brachte. Das faszinierte mich. Wieso konnten diese hochgebildeten Frauen problemlos männliche Genitalien reproduzieren, während ihre eigenen Genitalien für sie so fremd und geheimnisvoll waren, dass sie sie nicht einmal rudimentär nachzeichnen konnten? Dabei fiel mir auf, dass sie und auch ich Bilder der Vulva – abgesehen von medizinischen Illustrationen – nur als Produkte der Porno- oder Hygieneindustrie zu sehen bekommen. So beschloss ich, mich auf die Suche nach dem symbolischen Ort zu machen, den die Vulva in unserer Kultur besetzt.
[…] So finden sich in den meisten Mythologien Geschichten, in denen die Menschheit mindestens einmal durch die Zurschaustellung der Vulva gerettet wurde. Es gab den festen Glauben, dass Frauen, indem sie ihre Röcke heben, Tote erwecken und sogar den Teufel besiegen konnten. Das weibliche Genital war ein heiliger und heilender Ort. Die Vulva wurde nicht etwa übersehen, sondern mit gewaltiger Anstrengung zuerst diffamiert und daraufhin verleugnet, bis zu der irrigen und irren Auffassung, sie sei nicht der Rede wert.
Zum Glück lässt sich nichts hundertprozentig verdrängen. Sodass ich im Laufe meiner Recherchen Verweise auf das primäre weibliche Geschlechtsorgan plötzlich überall in der Literatur und Kunst des Abendlandes entdeckte, also in jenen Medien, mit denen unsere Kultur sich darstellt und sich selbst erklärt. Allerdings waren diese Verweise vorwiegend verzerrt und kaum lesbar. Was jedoch nicht verstanden wird, kann auch nicht gestaltet und vor allem nicht umgestaltet werden.
Und genau darum geht es in diesem Buch. Es ist der Versuch, die kulturelle Bedeutung des weiblichen Genitals zu rekonstruieren und die Anstrengungen sichtbar zu machen, die unternommen werden mussten, um die Vulva zu verdrängen, da an ihrer Re/Präsentation der Kampf um die Definitionsgewalt über den weiblichen Körper ausgetragen wurde (wobei Körper in diesem Fall eine Metonymie für das ist, was wir als ‘weiblich’ definieren. Das ist wichtig zu unterscheiden, schließlich handelt es sich hier um die Untersuchung eines kulturell umkämpften Bereichs und nicht um eine erneute Gleichsetzung der Konzepte ‘Frau’ und ‘Körper’.) Vor allem aber will ich die Gegenbewegungen würdigen, die das ‘unsichtbare Geschlecht’ durch die Jahrhunderte in Wort und Bild sichtbar gemacht haben. Denn, wie der indianische Schriftsteller und Pulitzerpreisträger Natachee Scott Momaday schrieb: „Wir sind unsere Vorstellungen. […] Unsere schiere Existenz besteht aus den Bildern, die wir uns von uns selbst machen […], das schlimmste, was uns zustoßen kann, ist, dass es keine Vorstellungen von uns gibt.”3

Sheela-na-gig

Bereits der Name dieser verwirrenden Figuren, Sheela-na-gig, wirft Rätsel auf. Der deutsche Wissenschaftler Johann Georg Kohl schrieb 1843, dass Männer im Mittelalter sich an „eine bestimmte Art von Frauen“ wandten, die sich vor ihnen entblößten. Dadurch sollte Unheil von den Männern abgewendet werden. Er schloss anzüglich: „Viele Frauen machten daraus sogar einen Beruf“.4
Aus diesem Grund ging Thomas Wright 1866 davon aus, dass es sich bei Sheela-na-gig um eine Bezeichnung für Prostituierte handele. Edith Guest dagegen erhielt bei Befragungen 1937 die Antwort, Sheela-na-gig sei lediglich ein anderes Wort für Hexe.5 Manche Forscher meinen, es stamme vom gälischen ‘Síle na gCíoch’ – Julia von den Brüsten.6
Andere wiederum übersetzten gig nicht mit gCíoch, sondern naheliegender mit giggie, was ‘weibliches Genital’ bedeutet (und mit dem irischen Volkstanz jig verwandt sein soll, der wiederum auf den französischen gigue zurückgeht und in vorchristlicher Zeit ein orgiastischer Tanz war).
Es gibt zahlreiche Lesarten der Sheela-na-gigs, bis hin zu der Deutung, sie seien Werbung für den antiislamischen Krieg der Kreuzzüge.7 1934 griff die Anthropologin Margaret Murray den Gedanken Kohls, die Sheelas hätten apotropäische, also Unheil abwehrende Wirkung, wieder auf. Allerdings mit dem Unterschied, dass ihrer Meinung nach der Akt der Enthüllung nicht vor Männern stattgefunden habe, sondern wie die Geste der Baubo im Kontext weiblicher Riten und hauptsächlich vor Frauen. Sie stützte ihre These darauf, dass diejenigen Sheelas, die nicht an Kirchen oder Stadtmauern angebracht waren, ausschließlich in Häusern von Frauen und deren Gräbern gefunden wurden.8
Außerdem zitierte sie ein Experiment, bei dem Frauen Bilder der Sheelas gezeigt wurden und eine eindeutig stimulierende Wirkung nachgewiesen werden konnte – anders als bei Bildern von priapischen Figuren, also Männern mit riesigen Penissen, die die Frauen überraschend unberührt ließen.
Dagegen wurden die Sheelas selbst durchaus berührt. Wenn ihnen die riesigen Vulvas nicht aus Empörung über deren Unzüchtigkeit weggehauen wurden, sind sie glänzend abgegriffen. Die Sheela-na-gig-Expertin Barbara Freitag deutet das als Hinweis darauf, dass Kirchgängerinnen beim Eintritt durch das Portal das markante Geschlechtsteil berührten, um davon Segen zu empfangen.9
Eine solche Geste findet sich weltweit. In Indien, wo nackte Göttinnen die Tempel schmücken, wird damit symbolisch die heilige weibliche Sekretion aufgenommen, um sie auf das dritte Auge der Gläubigen zu streichen, so wie katholische Christen mit den Fingern in die feuchte Schale hineintippen und sich Weihwasser auf Stirn, Herz und Schultern auftragen.

Die Vulva als Symbol und in der Kunst

Gloria Steinem schrieb über ihre Initiation in die Frauenbewegung:
„Diese frühen Jahre der Entdeckungen sind, für mich, durch sinnliche Erinnerungen symbolisiert: wie zum Beispiel meinen Rundgang durch Judy Chicagos Women House in Los Angeles, wo jeder Raum von einer anderen Künstlerin gestaltet war und wo ich zum ersten Mal weibliche Symbole in meiner eigenen Kultur entdeckte. (Beispielsweise ist die Form, die wir Herz nennen – die in ihrer Symmetrie weit eher der Vulva ähnelt als dem asymmetrischen Organ, dessen Namen sie trägt – wahrscheinlich ein übriggebliebenes Symbol des weiblichen Genitals. Jahrhunderte männlicher Dominanz haben es seiner Macht beraubt und auf Romantik herabgemildert.)”10
Das Herz, das in den Mariendarstellungen des Mittelalters Maria ihr (von seiner Funktion getrenntes) Genital zurückbrachte und seit 1170 sogar direkt angebetet wurde, galt noch bis ins späte 19. Jahrhundert als gewagt. So trug die Cancantänzerin Louise Weber, besser bekannt als La Goulue von Henri de Toulouse-Lautrecs Bildern, ein rotes Herz auf ihre schwarze Unterwäsche gestickt, welches sie enthüllte, wann immer sie die Beine in die Luft warf, und brachte die Zuschauer damit in erotische Ekstase. Die Zensur versuchte alles, um das schlüpfrige Herz – nicht etwa das Beinehochwerfen – zu verbieten, und bestand auf einfarbiger, schwarzer Unterwäsche. Auch die weit verbreitete Darstellung des von einem Pfeil durchbohrten Herzens wies ursprünglich nicht auf erste Verliebtheit hin, sondern auf den Koitus.
In einer Welt, in der es vermeintlich keine Symbolisierung des weiblichen Genitals gab, war die Wiederentdeckung dieser Symbole für Künstlerinnen eine Quelle von unglaublicher Energie und Inspiration. Herzen, Kreise, Spiralen, Labyrinthe, vor allem Rosen, und verwandte genitale Formen prägen Malerei, Skulptur, ja sogar Architektur und Design der 1960er und 1970er Jahre. Das ging mit einer feministischen Neubewertung der Bildhauerin Barbara Hepworth, die Löcher in nahezu alle ihre Skulpturen bohrte, sowie der Malerin Georgia O’Keeffe mit ihren vulvaesken Blumenbildern einher. Die von beiden inspirierte Yayoi Kusama bedeckte jede nur mögliche Oberfläche mit runden Flecken, den sogenannten Polkadots, die ihr Markenzeichen werden sollten. Ana Mendieta sprengte den Umriss ihres Körpers in die Landschaft, umgab ihn mit Erdwällen wie Labien und ließ daraus rote Farbe wie Menstruationsblut rinnen, während Valie Export ihr Geschlecht als Kampfansage an die Gesellschaft nutzte und, Maschinengewehr im Anschlag, breitbeinig posierte, nachdem sie vorher das Stück aus ihrer Aktionshose Genitalpanik herausgeschnitten hatte, das ihre ‘Scham’ bedecken sollte.

Kennst du schon die vaginale Korona?

[…] Einer der häufigsten Eingriffe ist die Revirginisierung – wobei das Jungfernhäutchen geflickt wird. Was besonders interessant ist, als es das Jungfernhäutchen gar nicht gibt. Trotzdem hält sich die Überzeugung, dass vor dem ersten Geschlechtsverkehr in der Vaginalöffnung eine dünne Haut gespannt ist, vergleichbar mit der Frischhaltefolie, die die Waren im Supermarkt versiegelt, um anzuzeigen, dass sie unberührt sind. Auch der vermeintlich wissenschaftlichere Begriff Hymen ist nur Griechisch für das gleiche Konzept. Hymen bedeutet Membran oder Haut. Tatsächlich handelt es sich bei besagtem Häutchen nicht um eine straffe Haut, sondern um eine Ansammlung von ringförmig angeordneten Schleimhautfalten, eine Korona – ebenfalls griechisch für Kranz oder Krone. Weshalb der schwedische Sprachrat den ideologiebeladenen Begriff Jungfernhäutchen (Schwedisch: mödomshinna) durch vaginale Korona ersetzt hat.
Diese Korona befindet sich einen bis zwei Zentimeter tief in der Vagina und verschließt diese keineswegs hermetisch. Sollte sie das in Ausnahmefällen doch tun, ist das ein ernst zu nehmendes Problem, das medizinisch behoben werden muss, weil Menstruationsblut und andere vaginale Flüssigkeiten dann nicht abfließen können. Weder wird die Korona von einem eindringenden Penis oder Finger beim ‘ersten Mal’ durchstoßen – noch beim Sport oder anderen körperlichen Aktivitäten zerrissen. Ganz im Gegenteil sind die intimen Hautfalten ziemlich dehnbar. Sie verschwinden auch nicht nach dem ersten Geschlechtsverkehr auf geheimnisvolle Weise, und weniger als die Hälfte aller Frauen bluten. Die berühmten Blutstropfen auf dem Laken sind kein Beweis für die Jungfräulichkeit der Braut, sondern für eine Verletzung, also genau das, wofür Blut – mit Ausnahme von Menstruationsblut – ansonsten auch steht.

  1. Mithu M. Sanyal: VULVA. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 4. Auflage 2019, ISBN 978 3 8031 2769 3.
  2. Im Kapitel „Zum Schluss“, das nach der Erstauflage zugefügt wurde, schreibt Mithu Sanyal (S. 198): Ein weiterer Irrtum in diesem Buch ist, dass ich über die Vulva als „das weibliche Genital“ spreche. Doch natürlich haben nicht nur Frauen Vulvas. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle entschuldigen. Der Zwang, Geschlecht anhand von Genitalien zu beschreiben, zuzuschreiben und festzuschreiben und alles, was nicht in dieses Schema passt, passend zu machen, führt dazu, dass unsere Sprache erschreckend viele Leerstellen aufweist. Und ich muss zugeben, dass ich auch – noch – keine wirkliche Lösung für dieses Dilemma habe. Für Verbesserungsvorschläge und Anregungen bin ich offen. Vielleicht wird es mit Ihrer/Eurer Hilfe irgendwann eine komplette Neuausgabe geben.
  3. Natachee Scott Momaday, zitiert nach: Gerald Vizenor: ‘Socioacupuncture. Mythic Reversals and the Striptease in Four Scenes’, in: Out there: Marginalisation and Contemporary Cultures. Hrsg. v. Russell Ferguson u. a. New York/Cambridge (Massachusetts)/London 1990, S. 420. Übersetzung Mithu Sanyal.
  4. Vgl. Ralf Sotscheck: ‘Die Katakomben des Nationalmuseums’, in: Ders.: Das Auge des keltischen Tigers. Dubliner Stories. Wien 2001, S. 104.
  5. Vgl. Jórgen Andersen: The Witch on the Wall. Erotic Sculpture in the British Isles. London 1977, S. 23.
  6. Vgl. Sotscheck: ‘Die Katakomben des Nationalmuseums’, S. 102.
  7. Vgl. Claudio Lange: ‘Plastischer Kirchenschmuck und Islam. Zur Deutung des Obszönen’, in: Gabriele Bartz/Albert Kanein/Claudio Lange: Liebesfreuden im MIttelalter. Kulturgeschichte der Erotik und Sexualität in Bildern und Dokumenten. Stuttgart/Zürich 1994, S. 97-121.
  8. Vgl. Margaret A. Murray: ‘Female Fertility Figures’, in: The Journal of the Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland 64 (1934), S. 93-100.
  9. Vgl. Sotscheck: ‘Die Katakomben des Nationalmuseums’, S. 105.
  10. Gloria Steinem: Nachwort zu: Eve Ensler: Die Vagina-Monologe. Hamburg 2000, S. 109.
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3 Kommentare

Katharina von ichgebaere.com 9. October 2020 - 11:27

Wow! Was für ein Beitrag! Danke! Damit sind 2 neue Punkte auf meiner todoliste: 1. Dieses Buch lesen und 2. Vulvamalenüben! ?

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Petra Sood 9. October 2020 - 11:49

Liebe Katharina, es freut mich dass dich Mithus Buch auch anspricht!
Vulvamalenüben kommt ab sofort in meinen Wortschatz! _Petra

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Ulrike 9. November 2020 - 9:21

Vielen Dank für diesen großartigen Buchtipp!

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