Überlegungen zum fehlenden Pinkelfortsatz

Junge, muss ich pinkeln! Wir arbeiten schon seit Stunden an unserer ökologischen Untersuchung und nach einem schönen heißen Tee aus der Thermosflasche zum Mittagessen ruft jetzt die Natur. Ich kann mehrere meiner männlichen Cisgender-Kollegen sehen, die zu einigen Bäumen am Rande der Salzwiese traben, ohne Zweifel dem gleichen Ruf folgend. Für mich ist das etwas kniffliger.
Inhaltsverzeichnis

Der folgende Gastbeitrag von Xavi ist Teil 1 unserer Reihe zum Thema „Menstruation und Trans“. Für eine allgemeine Einleitung, auch zu Begrifflichkeiten, kannst du diesen Artikel lesen. Zu Begriffen, die in dem folgenden Beitrag unterstrichen sind, findest du in dem verlinkten Einleitungstext eine Erklärung.

Xavi bei der Feldarbeit
Aber was ist, wenn ich mal muss …?

Junge, muss ich pinkeln! Wir arbeiten schon seit Stunden an unserer ökologischen Untersuchung und nach einem schönen heißen Tee aus der Thermosflasche zum Mittagessen ruft jetzt die Natur. Ich kann mehrere meiner männlichen Cisgender-Kollegen sehen, die zu einigen Bäumen am Rande der Salzwiese traben, ohne Zweifel dem gleichen Ruf folgend. Für mich ist das etwas kniffliger…

Als männlich präsentierende Person befand ich mich schon in unzähligen solcher Situationen und fühlte mich mehr als einmal unbehaglich. Wie damals, als ich bei meinem Tätowierer nach dem Klo fragte und sie nur ein Pissoir hatten. Oder auf der Exkursion, bei der der Dozent fröhlich rief: „Okay, Jungs, wenn ihr noch pinkeln müsst, stellt euch einfach an dieser Düne auf!”

Ja klar, man kann immer so tun, als bräuchte man eine „längere Sitzung“, oder man fragt nach der Frauentoilette – aber das sind auch nicht gerade die angenehmsten und sozial entspanntesten Optionen…

Wie es anfing

Xavi als Kind
Entschuldigung, keine sehr spektakuläre Vorher-Nachher-Geschichte

Obwohl ich als Mädchen geboren wurde, habe ich fast mein ganzes Leben lang als Junge / Mann gelebt. Das schien mir einfach immer irgendwie „passender“. Zum Glück komme ich nicht aus einer Familie, in der mir irgendwelche Geschlechternormen aufgedrückt wurden! Meine Eltern waren revolutionäre Hippies und ermutigten mich immer, einfach so zu sein, wie ich bin und zu tun, was ich tun möchte. Sie hatten trotzdem mit meiner Transition zu kämpfen, aber sie versuchten nie, mich in eine „Mädchen“-Form zu pressen. 

Keine Kleider, kein Rosa, keine Prinzessinnen oder Barbie-Puppen, keine Einschränkungen beim Wildsein und beim Fußballspielen mit den Jungs aus meiner Straße. 

Diese ganze Sache mit Jungen und Mädchen wurde erst in der Pubertät zu einem Problem. Als ich 13 Jahre alt war, hatte ich mich bereits entschlossen, mich körperlich behandeln zu lassen, sobald ich alt genug sein würde. In den frühen 1990ern gab es keine Möglichkeit, sich als Minderjährige:r behandeln zu lassen. Deshalb habe ich mit der Behandlung erst begonnen, als ich volljährig war.

Menstruation

Mit der Pubertät kam auch die Menstruation und das war damals aus verschiedenen Gründen eine richtige Katastrophe für mich. Zunächst war es eine monatliche Erinnerung an meinen weiblichen Körper, in dem ich mich immer unwohler fühlte, je mehr er sich entwickelte. Außerdem wollte ich natürlich keine Menstruationsprodukte kaufen – welcher männliche Teenager würde das jemals tun?? 

Ich stopfte mir daher meistens einfach Klopapier in die Unterhose. Und ich versuchte ganz gezielt, durch Gewichtsabnahme meine Blutungen zu reduzieren – sehr dünn zu sein, schien sowieso gut, auch um die Brüste möglichst klein zu halten. Das führte zu einer langjährigen Essstörung. 

Dadurch schaffte ich es, dass sich meine Blutung in Grenzen hielt und meistens auch nur drei oder vier Tage anhielt, das minimierte immerhin die psychische Belastung. Interessanterweise kann ich mich gar nicht im Einzelnen an problematische Situationen erinnern, die mit Menstruation zu tun hatten – nur an ein generelles Gefühl von riesiger Erleichterung, als die Blutungen durch die Hormonbehandlung endlich aufhörten. Damit hatten sich auch meine negativen Gefühle gegenüber meinen noch übrigen primären Geschlechtsteilen erledigt: Brüste und Periode mussten weg, der Rest war mir egal. Ich verspürte nie den Drang, mir die Ovarien entfernen zu lassen oder einen Penis kreieren zu lassen. 

Nicht-genderkonformer Naturwissenschaftler

Hippies mit E-Gitarren

Mein Weg in die Naturwissenschaften war keineswegs schnurgerade: Ich war jahrelang professioneller Rockmusiker, ging dann zurück zur Schule und machte mein Abitur. Danach schloss ich einen Magister in Latein und Germanistik ab und arbeitete als Lehrer. Schließlich kehrte ich mit 37 zur Uni zurück, um Umweltwissenschaften zu studieren. Als ich anfing, in diesem Bereich zu arbeiten, war daher dieser ganze Übergangsprozess lange vorbei.

Ich habe also fast mein ganzes Leben als Junge / Mann gelebt und seit dem Jahr 2000 wurde diese Identität auch von niemandem mehr aufgrund meines Aussehens oder meiner Stimmlage infrage gestellt. Es war für mich absolut unnötig, mich mit der Tatsache zu befassen, dass ich nicht alle Körperteile besitze, die man von jemandem erwarten würde, der so aussieht wie ich. 

Aber das oben beschriebene „Pinkel-Problem” bei der Forschungsarbeit im Feld ließ mich dann mehr nachdenken: Mit welchen Herausforderungen sehen sich Menschen wie ich konfrontiert in Situationen im Freien oder auf engstem Raum – möglicherweise in Teams, die sie (noch) nicht gut kennen, oder in Umgebungen, in denen sie sich nicht ganz sicher oder wohl fühlen? Wie viele gender-diverse Menschen haben Positionen abgelehnt, die Reisen in Länder beinhalten würden, in denen unsere Identität als Verbrechen gilt oder uns möglicherweise Angriffen aussetzen würde? Oder Forschungsmöglichkeiten, die Feld- oder Bootsarbeit unter Bedingungen beinhalten, die uns möglicherweise zu einem Coming-Out zwingen, ob wir wollen oder nicht? Besonders schwer betroffen sind Menschen, die körperlich nicht so transitioniert sind, dass sie in der Regel nicht als trans auffallen.

Ich erinnere mich an vergleichbare Probleme, mit denen ich als Musiker konfrontiert war – zum Beispiel als wir zusammen mit einer anderen Band in einem VW Bus durch Lappland touren und alle im Bus schlafen und leben sollten. Zu der Zeit lebte ich als Mann, hatte aber noch keine körperliche Behandlung gehabt. Natürlich war das eine unmögliche Planung und wir mussten die Tour ablehnen. 

Ich glaube, dass es wichtig ist, über diese Hindernisse und darüber, wie man sie angeht, zu sprechen. Jede:r sollte die Möglichkeit haben, das zu tun, was sie:er tun möchte, und sich dabei sicher und respektiert fühlen – egal, ob alle Körperteile nach landläufiger Meinung zur Geschlechtsidentität „passen“.

Die Notwendigkeit von Vorbildern

Je mehr ich der Frage nachging, womit Kolleg:innen zu kämpfen haben könnten, desto mehr begann ich auch, über die Notwendigkeit von Sichtbarkeit und Vorbildern nachzudenken. Ein Gedankengang, der letztendlich dazu führte, dass ich offener über meine eigene Geschlechtsidentität sprach. 

Wenn diejenigen von uns, die sich unbemerkt in einer cisgender-dominierten Welt bewegen können, das auch tun, dann berauben wir Menschen, die das nicht können, wichtiger Vorbilder und Mentor:innen. 

Ihr könnt mehr über diesen Aspekt in einem englischsprachigen Blogartikel lesen, den ich für die British Ecological Society geschrieben habe: britishecologicalsociety.org

Auf dem Weg zu einer offeneren und integrativeren Gesellschaft hoffe ich für die Zukunft, dass wir erkennen, dass es nicht auf Körperteile, Namen auf Ausweisdokumenten oder andere traditionelle Marker ankommt, die in einer heteronormativen Cisgender-Welt verwurzelt sind, sondern dass zählt, wie sich jede:r selbst definiert. Sobald wir das akzeptieren, können wir uns von der Pinkel-Problematik entfernen: Jede:r kann dann auf jede erdenkliche Weise pinkeln, ohne befürchten zu müssen, dass die Leute denken, sie seien keine „echten Männer“ oder „echten Frauen“.

Ich denke, dass wir nicht nur Menschen außerhalb des Cisgender-Spektrums unterstützen müssen, sondern dass wir auch Cis-Menschen helfen müssen, ihre eigenen Konzepte von Geschlecht und Identität zu verstehen. Nur so können wir gemeinsam ein System außerhalb von traditionellen reduktionistischen Männlich / Weiblich-Kategorien denken.

Xavi
Xavi ist Umweltwissenschaftler mit einem Hintergrund in Latein (schola-catilina.com), Linguistik und Punkrock. Er ist Gründer und Direktor der gemeinnützigen Organisation "The Plover Rovers" (plover-rovers.com). Xavi lebt mit seinem lateinverrückten Ehemann in Hamshire.
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1 Kommentieren

Katharina Tolle 22. February 2021 - 9:57

Danke für diesen tollen Beitrag, Xavi! Du hast vollkommen recht: Natürlich ist es erstmal einfacher, nicht aufzufallen. Langfristig sinnvoll für die Gemeinschaft ist es, solche Blogbeiträge zu veröffentlichen! Danke auch, dass sich das Kulmine-Magazin diesem Thema widmet!

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